35. Ötztaler Radmarathon

Eine Grenzerfahrung

images_news_2015_oetzi1Sölden:
Drei Jahre vergebens um einen Startplatz beworben. Doch diese Saison sollte der Traum endlich wahr werden: Micha startete beim Ötztaler Radmarathon!
Zu Beginn der Vorbereitung lag der Fokus noch auf der magischen 10-Stunden-Grenze. Nach längerer Anaylse der eigenen Fähigkeiten und Form beim Trainingslager oder auch nach dem Marcialonga-Rennen im Juni, korrigierte Micha sein Ziel für den Ötztaler: Überleben und unter 11 Stunden bleiben.

Lange wurde das Höhenprofil studiert, die Anstiege bis auf kleinste Prozentunterschiede begutachtet. Letztendlich montierte Micha auch noch den „Rettungsring“, eine Kassette mit 30er Ritzel, das der letzte Anker am Timmelsjoch werden sollte. Tage zuvor baobachtete er nahezu stündlich die Wettervorhersage, auch auf den einzelnen Pässen. Die Angst vor Kälte und Regen war groß.

images_news_2015_oetzi9Doch nun genug der langen Vorrede. Kommen wir zum Renngeschehen:
Das Wetter sollte mitspielen und nicht Kälte, sondern Hitze sollte zum Prüfstein werden.
Pünktlich um 6:45 Uhr erfolgte der Start zum wohl bekanntesten Radmarathon Europas.
Micha:„Vom Startschuss hab ich gar nichts mitbekommen. Auf alle Fälle rollte das Feld los und ich mit. Gegen 7 überfuhr ich dann die Startlinie. Jetzt lief meine Zeit..“
Von Sölden, das das ganze Wochenende völlig eingenommen, von Männern und Frauen mit rasierten Waden und Sonnenbräune die unterhalb der Schulter, bzw. kurz über den Knien endete, verlief die Strecke eigentlich stetig bergab.
Micha: „Überrascht war ich von der zivilisierten Art, die gefahren wurde. Ein Bekannter warnte mich ein paar Tage zuvor noch, ich solle es ruhig angehen lassen, weil alle wie blöd losbolzen würden. Aber das Gegenteil war der Fall. Vielleicht war ich auch einfach zu weit hinten.“
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In Ötz gings dann richtig los. Nach einer scharfen Rechtskurve hielten schon die meisten an, um sich der wärmenden Kleidung zu entledigen, denn der Körper würde sich ab jetzt von selbst aufheizen. Der Apperetif wurde serviert. Knapp 18 Kilometer und 1237 Höhenmeter waren bis auf den Kühtaisattel zurückzulegen.
Micha:„Ich hielt mich weiterhin sehr ruhig und ging einfach das Tempo der anderen mit. In Gesprächen zuvor wurde ich mehrmals vor dem Anstieg gewarnt. Vorallem vor den 18 Prozent. Aber um ehrlich zu sein, hab ich die nicht gesehen. Ein Mythos…? Allerdings reichten die längeren Passagen bei 15-16 % schon auch.“
Kurz vor der Passhöhe musste sich das Fahrerfeld noch durch eine typische Zuschauerschar in den Alpen einen Weg bahnen: Eine Herde Kühe trottete gemächlich quer über den Weg. Oben angekommen, wartete die erste Labestation, die auch rege genutzt wurde.
images_news_2015_oetzi2 Auf der Abfahrt mit relativ langen Geraden, konnte Micha das Rad richtig laufen lassen und verlor nicht allzu viel Zeit.
Es folgte mit dem Brenner der vermeintlich leichteste Pass des Tages.
Micha:„Ich wusste zum Glück vorher, dass das so ein bißchen der Schlüsselpass des Tages werden würde. Der Anstieg ist mit etwa 800 Höhenmetern auf 40 Kilometer eher anspruchslos. Doch gerade darin bestand die Gefahr auf diesem teils flachen, ja sogar mit ein klein wenig Gefälle zwischendurch versehenen Pass, wichtige Körner zu verbraten. Ich blieb demzufolge in einer größeren Gruppe, um hier wichtige Energie zu sparen. Das wichtigste jetzt war die Konzentration aufrecht zu erhalten.“
Einem Fahrer zwei Reihen vor Micha gelang das nicht so gut. Er kam mit der Pedale an den Bordstein und stürzte. Micha konnte glücklicherweise ziemlich problemlos ausweichen.
Micha:„Irgendwann liess sich ein Not(durft)stopp meinerseits nicht mehr hinauszögern und ich musste kurz anhalten. Blöderweise verlor ich damit natürlich den Anschluss an „mein“ Peloton und musste die letzten 5 Kilometer bis zur Passhöhe solo im Wind zurücklegen, da auch von hinten niemand nachkam. Den nächsten Labestopp wollte ich eigentlich etwas in die Länge ziehen, aber der Wettkampf zog mich schon nach kurzer Zeit weiter.“

images_news_2015_oetzi4 Die vermeintliche Hälfte schien geschafft, doch die dicken Brocken kamen ja erst noch. Noch einmal durchschnaufen auf dem Weg nach Sterzing. Nach dem Durchqueren des Kreisverkehrs begann der zermürbende Aufstieg auf 2094m. Der 15 Kilometer lange Anstieg mit einer durchschnittlichen Steigung von 7,6 Prozent und 1146 Höhenmetern steigt zwar sehr gleichmäßig gen Himmel, erlaubt aber dadurch auch keine Verschnaufpause.
Micha:„Bereits hier flammte kurz der Gedanke auf: Gehts hier heut noch um die Zeit oder ums Überleben?
Es entwickelte sich eine Massenkurbelei in den kleinsten Gängen. Noch blieb die Kette neben dem 30er Ritzel. Verstohlene Blicke zur Seite. Wie sieht die Konkurrenz aus? Müder als man selber? Lockerer?
Micha:„Hier wurde es zum ersten Mal wirklich hart. Immer wieder musste ich wechseln zwischen Wiegetritt und im Sitzen treten. Hunger machte sich bemerkbar. Mehr und mehr realisierte ich, dass das hier kein gewöhnlicher Radmarathon ist, wie ich sie bisher bestritten hatte.“
images_news_2015_oetzi10 Nach etwa 2 Drittel des Anstiegs, ein Ruck in den Fingermuskeln, ein Klick, die Kette sprang auf das jungfräuliche 30er Ritzel. Der Rettungsring war aktiviert.
Micha:„Eigentlich wollte ich ja bis zum Timmelsjoch ohne auskommen, aber es kostete zuviel Kraft den Gang davor hier am Jaufenpass zu treten, deshalb gab ich nach. Das half sicher die Energiereserven etwas zu schonen.
An der Labestation ein Stück unterhalb der Passhöhe überkam mich dann ein regelrechter Fressflash. Optimal war das sicher nicht, weil besonders der Magen später rebellieren sollte.“

Auf der folgenden kurvenreichen Abfahrt waren gute Handmuskeln und stabile Bremsen gefragt. Die serpentinenreiche Abfahrt liess den Beinen zwar eine Erholungsphase, dafür wurden Unterarme und Nacken umso stärker beansprucht. In St.Leonhard die Rechtskurve mit dem Gasthof genommen und sofort startete ohne Zeit zum Nachdenken zu lassen der Endgegner des Tages: das Timmelsjoch.

Micha:„Das ich bei einer Radveranstaltung mal vom Elend der Landstrasse sprechen würde, hätte ich so nicht vermutet. Doch welche enttäuschte Gesichter und geplatzte Träume man hier erlebte war schon unglaublich. Immer wieder am Strassenrand sitzende, sich massierende oder auch das Rad schiebende Fahrer.
Auch meine Grenze war erreicht.“

Das Timmelsjoch gehört wohl zu den schwersten Pässen im Alpenraum überhaupt, denn es ist mit 29 km eigentlich überlang und wartet mit unangenehm hohen Steigungsprozenten auf. Es gilt noch einmal 1821 Höhenmeter am Stück zu bewältigen. images_news_2015_oetzi5 Wenn man wie beim Ötztaler Radmarathon das Timmelsjoch nach dem Kühtai, dem Brennerpass und dem Jaufenpass in Angriff nimmt, erwarten einen fast höllische Qualen. Vor allem der Schluss des Anstiegs mit dem Steilhang saugt die allerletzten Reserven aus den ohnehin schon erschöpften Muskeln. Doch bis unser Fahrer diesen erreicht hatte, galt es den fiesen Kampf gegen den eigenen Körper und besonders den Kopf zu gewinnen.

Micha:„Neben der Tatsache, dass ich mittlerweile total leer war, sorgte mein rebellierender Magen für Probleme. Warum auch musste ich dieser Heisshungerattacke am Jaufen nachgeben? Langsam kurbelte ich Meter für Meter aufwärts. Aber gut, hier ging es kaum einem besser.
Nach etwa einem Drittel des Anstiegs, dann der bittere Moment. Ich musste meinem eigenen Credo zuwider handeln: Anhalten und Absteigen. Nix ging mehr!
Nur wenige Sekunden später gesellte sich schon der erste Mitstreiter zu mir.“

images_news_2015_oetzi8 3-4 Minuten habe ich gebraucht, bis ich meinte es wieder probieren zu können. Zu sagen, dass es darauffolgend wieder besser ging, wäre glatt gelogen. Es blieb eine Tortur. Ein paar Höhenmeter später verlangte der Körper erneut nach einem Stopp. Krämpfe im Oberschenkel bahnten sich an. Also nochmal kurz vom Rad. Das war irgendwie deprimierend.

Natürlich stand aufgeben nicht zur Debatte. Wirklich nicht! Also klickte Micha schon bald wird in die Pedale.
Micha:„Magengrummeln, leichter Kopfschmerz, die Beine immer nah am Krampf, 30°Grad. & hohe Steigungsprozente. So schön kann das Timmelsjoch sein…“

Endlich kam der Steilhang in Sicht. An diesem kargen Felshang sind die Straßenabschnitte scheinbar endlos übereinander geschachtelt und erinnern brutal an den Steilhang des Stilfser Jochs. Überlebt man diese letzte 10 km lange Tortur, muss man nach den letzten beiden Tunnels noch einen Kilometer leicht bergan überstehen, bis man die Passhöhe erreicht hat und kann sich nun in die mit einem Gegenhang garnierte Abfahrt stürzen.
Micha:„Der Steilhang verlief dennoch ziemlich gut. Wohl auch weil man weiss, das es danach quasi geschafft ist. Das Grinsen bei der Einfahrt in den Tunnel kann ich gar nicht so wiedergeben. Es folgte noch der kleine Teil bis zur Zollstelle, dann erschien das Banner: „Jetzt hast du Deinen Traum“. Unbeschreibliche Gefühle beschleichen einen da. Ich hatte es endlich geschafft meinen langgehegten Traum zu verwirklichen. Den Ötztaler Radmarathon fahren und finishen.“
images_news_2015_oetzi11 Auf der Abfahrt erlebte unser Pedalritter dann noch eine kleine Schrecksekunde, als der angekündigte Krampf im Oberschenkel beim Anbremsen einer Kurve kam. Aber danach hiess es nur noch die Abfahrt geniessen. Einfahrt nach Sölden. Viele Zuschauer die rufen, winken. Rechtskurve über die Brücke. Der Zielstrich. Der Jubelschrei. GESCHAFFT!
In den ersten Stunden, ach was Tagen und Wochen nach dem laut Veranstalter wohl wärmsten Ötztaler in der Geschichte des Radklassikers, war sich Micha sicher: NIE WIEDER!
Micha(im Ziel):„Das mach ich nicht noch einmal! Was eine Quälerei!“

images_news_2015_oetzi7 Er verpasste zwar seine Zielzeit von 11 Stunden um 22 Minuten, aber das war im Ziel völlig egal.
Micha:„Am Ende bin ich einfach glücklich und stolz es geschafft zu haben. In der Vorbereitung hätte ich sicher optimaler arbeiten können.“
Die Renneinteilung kann auch nicht so falsch gewesen sein. Denn in Ötz vor dem Anstieg nach Kühtai beim Überfahren der Zeitschleife noch auf Rang 3548, belegt Micha am Ende den Gesamtrang 2551. Macht eine Verbesserung um 1000 Plätze. Das kann sich doch sehen lassen.

Micha(2 Monate später):„Irgendwann könnt man ja mal schauen ob die Zeit zu verbessern ist. Vielleicht nicht gleich nächstes Jahr, aber irgendwann……..“

(Höhenprofil zum Vergrößern anklicken!

kurz zusammengefasst:

  • Streckenlänge: 238 km
  • Höhenmeter: 5500m
  • max.Steigung: 18%
  • Durchschnittsgeschwindigkeit: 20,92 km/h
  • offizielle Fahrzeit: 11h:22min
  • Platz 2551 von 3779 (Gesamtwertung)
  • Platz 1429 von 2143 (Altersklasse)

Micha:„Bei 1:06, 2:05, 2:52 & 3:15 bin ich im Bild ;-)“